Diskussion zum Fernkurs AT 2016-17

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25 Kommentare

  1. Zwei Fragen zu den Psalmen: Was genau unterscheidet einen Psalm von anderer Dichtung, z.B. einem Gedicht? Es wird von etlichen Texten gesagt, dass sie auch ein Psalm seien. Sind Psalmen einfach die alttestamentlichen Lieddichtungen?
    Kann ich als Leserin einer Bibel in Deutsch erkennen, ob es sich bei einem alphabetischen Psalm um einen solchen handelt? Welche Psalmen sind alphabetisch? Gerade beim Psalm 119 habe ich Mühe, einen Zugang zu bekommen, weil er für mich keine erkennbare Struktur hat.

    1. Zu 1). Es gibt keine Unterschiede: Psalmen sind Gebete/Lieder in Gedichtform.
      Zu 2) Als Bibelleser kann man nur erkennen, ob es sich im Hebräischen um einen alphabetischen Psalm handelt, wenn die Bibelausgabe das anzeigt. Neuere Bibeln machen das meist, z.B. die EÜ (für Ps. 119, siehe hier: https://www.bibleserver.com/text/EU/Psalm119). Jeweils 8 Verse fangen im Ps 119 mit “alef” = “A” an, dann die nächsten 8 mit “beth” = “B” usw. Diese „Ordnungsstruktur“ ist für uns ungewohnt, da sie keinen aufeinander aufbauenden Gedankengang widerspiegelt. Es ist in diesem Fall ein Lobpreis, der mit immmer neuen Formulierungen die Großartigkeit des Wortes Gottes, der Tora, besingt. Ein anderer alphabetischer Psalm ist etwa Ps 34; da gibt es einen fortschreitenden Gedankengang, allerdings keine spezifische Argumentation. Zu beachten ist, dass manchmal das Alphabet unerwartet durchbrochen wird; manchmal wird ein Buchstabe ausgelassen – ohne dass man wüsste warum – Ps 34 fehlt zwischen Vers 6 und 7 der Buchstabe “waw” –, oder zusätzlich etwas angehängt (Ps 34,23 kommt nach dem letzten Buchstaben des Alphabets (“taw”) mit einem “pe”. Manchmal ist die Reifenfolge bestimmter Buchstaben anders; das hat damit zu tun, dass es in der ältesten Zeit z. T. Alphabete mit einer alternativen Reihenfolge der Buchstaben gab.
      Zu den alphabetischen Texten gehören: Ps 9/10 (stark durchbrochen); 34; 37; 111; 112; 119; 145; das komplette Buch der Klgl; Spr 31,10-31.
      Der Sinn der Alphabetreihenfolge ist uns nicht immer ganz klar. Einerseits hat das sicher eine “mnemotechnische” Funktion (Gedächtnisstütze), andererseits dienten solche alphabetischen Psalmen teilweise wohl auch als Übungen für Schreiber, etwa zur Erlernung des Alphabets. Auch eine ästhetische Funktion ist nicht auszuschließen.
      Vermutlich soll mit dem gesamten Alphabet eine umfassende Ordnung ausgesagt werden: Alles nur Denkbare ist einbezogen, nichts ist chaotisch und von der Ordnung Gottes unberührt – selbst das Leid etc.

  2. Ich habe zwei Fragen zu einzelnen Fakten.
    Im AB 6 auf Seite 25 steht: “Als der intrigante…. Mordechai kreuzigen und alle Juden ausrotten lassen will…”. Ist das Wort “kreuzigen” an der Stelle ein Versehen? Ich finde im Text den Bericht vom Galgen, den Haman aufrichten lassen will. Letztendlich macht es ja keinen Unterschied.
    Genauso wie wohl die Antwort auf meine zweite Frage keinen ernsthaften Unterschied macht, nur stellt sich mir diese Frage immer wieder:
    In Mt 12,40 steht: “denn wie Jona drei Tage und drei Nächte im Bauch des Fisches war, so wird der Menschensohn drei Tage und drei Nächte im Herzen der Erde sein.” Wieso spricht Jesus hier von drei Tagen und drei Nächten? Von Freitag Nachmittag bis Sonntag in der Frühe sind es nur zwei Nächte.
    Ich will hier nicht zum Pfennigfuchser werden. Nur verstehe ich nicht, warum Jesus an solch einer wichtigen Stelle die Nächte überhaupt mit erwähnt, wenn es doch dann unsachlich wird. Vielleicht hast Du eine Erklärung dafür.

    1. (1) Zur “Kreuzigung” (Est 2,23; 7,10). Im Alten Orient gab es verschieden Formen der Hinrichtung “am Holz”. “Aufhängen” am Galgen, wie wir das kennen, gab es allerdings nicht. Assyrer “pfählten” Gefangene gern, sprich sie durchbohrten sie mit einem angespitzten Pfahl, den sie dann aufrichteten. Bei den Persern aber wurden die Verurteilten erst umgebracht und deren Leichen danach gepfählt; dann wäre das “Hängen ans Holz” nicht die eigentliche Hinrichtung. Wenn es sich hier aber um eine tatsächliche Hinrichtung am Pfahl handeln sollte, dann kommt tatsächlich am ehesten eine “Kreuzigung” in Frage (bezeugt beim griech. Historiker Herodot); aber auch sie konnte am Leichnam vollzogen werden. Das “Hängen ans Holz” hat also immer den Charakter einer öffentlichen Zurschaustellung und Demütigung – Vögel und Insekten machten sich über den Leichnam her.
      (2) “3 Tage und Nächte” stammt aus dem Jonabuch. Jesus übernimmt das Zitat zur Beschreibung seines Todes (!) und seiner Auferstehung. Buchstäblich gesehen war er aber nur 2 Nächte im Grab; das wussten auch die urchristlichen Evangelienverfasser. Hat Jesus sich geirrt? Oder umgekehrt: Hat Gott ihn zu früh auferweckt? Mit dieser schlichten Beobachtung lernen wir etwas sehr Wichtiges, nämlich eine Lektion in biblischer Hermeneutik: Es geht bei solchen Zitaten nicht um eine buchstabengetreue Anwendung (darum geht es eigentlich nie!), sondern um den Verweis- und Symbolcharakter.
      Hinzu kommt, dass Zeitangaben in biblischen Texten nach unserer Auffassung notorisch unscharf sind: „Nach drei Tagen“ kann bedeuten „am vierten Tag“ aber ebenso „am dritten Tag“. (Ähnliches gilt übrigens für die Angaben zu altorientalischen und damit auch biblischen Regierungszeiten: Sind Thronbesteigungs- und Todesjahr als volle Jahre mitgezählt oder nicht? Beides ist möglich, je nach gerade verwendetem Kalendersystem – das zudem ab und zu gewechselt wurde!) …

  3. Hallo Manfred,
    Andrea und ich sind beim Studieren der Propheten an den Gliederungen, die Inhalte und Arbeitsaufträge als jeweils eine Kategorie enthalten, gestolpert. Wie sind diese Arbeitsaufträge gemeint? An wen sind diese Arbeitsaufträge gerichtet? Uns ist nicht klar, was an manchen Stellen ein Arbeitsauftrag sein soll. Wir haben einen Mix geschrieben aus Inhalt der angegeben Stelle und was Gott tut und der Prophet tun soll. Bitte gib und hierzu eine Rückmeldung.
    Danke!

  4. Danke für Eure Kommentare.
    Manfred, Du hast es gut auf den Punkt gebracht. Letzten Endes läuft es auf die “Prädestinationslehre” hinaus und im Nachhinein ist mir klar geworden, dass es mit meiner persönlichen Lebensgeschichte zu tun hat. Seit ich denken kann, ist für mich Gott eine Realität, eine feste Gewissheit, während ich bei meinen Eltern zunehmende Verhärtung wahrnehme. Dies beschäftigt mich immer wieder. Mir hat das Bild mit den Spurrillen geholfen. Das trifft es sehr gut, wenn ich die zurückliegenden Jahrzehnte betrachte.

  5. Eine Frage zu den Geschichtsbüchern Samuel-Königsbücher lässt mich nicht los. In den AB3,Seite 18, Kapitel 3.5 tauchte die Frage auf: Was waren die Gründe für die Spaltung . . .Man beaachte die doppelte Ursache!
    Nun zu meiner Frage: War eine Ursache wirklich die, dass Rehabeam nicht auf den Rat der Ältesten hörte? Denn in Vers 15 (1Kön)steht: “Der König hörte also nicht auf das Volk; denn der Herr hatte es so bestimmt, um das Wort wahr zu machen, dass er durch Ahija . . .”
    Diesen Vers verstehe ich so, dass Gott es letzten Endes bestimmt hatte, dass Rehabeam nicht auf die Ältesten hörte. Die “zweite Ursache” letzten Endes aus dem Ratschluss Gottes folgte (das Reich zu spalten), weil (erste Ursache) Salomo sein Herz von Gott abgewandt hatte.
    So stellt sich mir noch eine tiefere Frage, ob eben Gottes Souveränität, seine Geschichte mit uns Menschen, seine Ratschlüsse teilweise hinter dem Verhalten von Menschen stehen, diese im Prizip keine wirkliche Wahl haben (z.B. Judas?)?
    Andererseits nutzt dann wieder Gott Menschen, wie z. B. den König Kyrus von Persien, der mit Sicherheit nicht dem Gott Israels diente, damit der Tempel in Jerusalem wieder aufgebaut wurde.
    Aber vielleicht ist es auch so, dass Gott in seiner Souveränität eben dann die Menschen nutzt (mit der entsprechenden inneren Haltung, z. B. die Härte eines Rehabeams), um seine Geschichte mit uns Menschen zu schreiben: Das Gute, wie das Schlechte?

    1. Manfred: Deine Frage scheint mir auf die sog. “Prädestinationslehre” hinauszulaufen, die Lehre von der umfassenden göttlichen Vorherbestimmung, die auch alle menschlichen Entscheidungen vorher festlegt. Dann wäre tatsächlich kein freier Wille des Menschen denkbar. Nun wird das in der Bibel nicht ausdrücklich gelehrt, im Unterschied etwa zum Appell an den freien Willen. Aber die Frage ist, ob einzelne Aussagen uns nicht doch zwingen, diese Lehre – vielleicht auch nur in Einzelfällen – zu schlussfolgern.
      Es gibt einzelne Aussagen an unterschiedlichen Orten dazu; die bekannteste ist die zur Verhärtung des Pharaos durch Gott beim Exodus(s.u.) Aber Ex 7,13 und dann die Aussagen bei den Plagen 1 – 5 und 7 zeigen, dass zunächst der Pharao selbst sich verhärtet (klassisch „Verstockung“ genannt), bis irgendwann ein Punkt erreicht ist, wo Gott diese Verhärtung (in Ex 11,10 und nochmal in Ex 14,4.8.17) sozusagen ratifiziert. Ab diesem Zeitpunkt scheint dann eine Änderung nicht mehr möglich. Hier – und an anderen Stellen in der Bibel – sieht es also so aus, dass der “freie Wille” des Menschen tatsächlich frei ist, dass aber die eigenen Entscheidungen auf Dauer nicht folgenlos bleiben; sie schaffen sozusagen eine Art “Kraftfeld”, dem man sich immer weniger entziehen kann, oder, um ein andere Bild zu verwenden: sie legen Spurrillen, die durch Wiederholung immer tiefer werden, bis man nicht mehr herauskommt. Psychologisch äußert sich das so, dass man vielleicht die ganze Problematik des eigenen Wegs (der Sünde, der Zwänge, der Sucht usw. …) klar vor Augen sieht, aber trotzdem gar nicht mehr umkehren möchte.
      Ursula: Nun weiß ich nicht, was Dich konkret bei Deiner Auseinandersetzung beschäftigt. Mal ein paar “Eckpfeiler”: Die Bibel zeigt uns, dass der Mensch grundsätzlich frei geschaffen wurde – auch mit der Freiheit, Gott abzulehnen. Sie zeigt uns auch, dass kein Mensch aus eigener Kraft zu Gott kommen kann, sondern die Erlösung durch Jesus braucht. Ich denke, es würde auch jeder Christ sagen, dass er seinen Glauben der Gnade Gottes verdankt, der ihm nachgegangen ist, um ihn geworben hat, sich ihm offenbart hat, ihm den Glauben geschenkt hat. Ebenso ist von der Bibel her klar, dass es eine Antwort des Menschen auf dieses Werben und Schenken Gottes braucht.
      Darüber hinausgehende Fragen nach der ewigen Plänen Gottes mit einem Einzelnen und dem, was ein Mensch kann oder nicht kann, sind philosophische Fragen des 16. Jahrhunderts, die sich den Menschen der biblischen Zeit nicht stellten, über die sie deshalb auch nicht nachgedacht haben.
      Die Bibel beantwortet nicht alle unsere philosophischen oder sonstigen Fragen. Sie gibt aber konkreten Menschen sehr konkrete und klare Weisungen für ihre konkrete Situation: “Lasst euch erretten!” oder: “Sei nicht stolz auf deine Glaubenskraft; sie ist Geschenk!” Und dieses konkrete Reden Gottes in mein persönliches Leben hinein muss mir genügen, auch wenn andere Fragen offen bleiben.

    1. 1.Kön 9,20ff sagt zwar aus, dass nur Nichtisraeliten zur Zwangsarbeit herangezogen wurden; allerdings machen andere Stellen deutlich, dass das nicht immer zutraf. In 1.Kön 5,27-30 wird daw Gegenteil gesagt; Jerobeam war Chef der Zwangsarbeiter des „Hauses Joseph“, also der Nordstämme (nicht Judas, aus dem Salomo kam); und 1.Kön 12,3f.18 zeigen, dass sich das bis zum Tod Salomos nicht geändert und große Erbitterung ausgelöst hatte. Die Last war unerträglich geworden, was zu einem wichtigen Grund für die Reichsteilung wurde; offensichtlich war also Juda bevorzugt worden. – Die unterschiedlichen Berichte gehen offensichtlich auf unterschiedliche Quellen zurück, die in den Königsbücher verarbeitet werden. Vielleicht ist 1.Kön 9 eine judäische Quelle.

    1. Schnell und sehr vereinfacht: “Wut” = Gefühl heftiger “blinder” und/oder “maßloser” Aggression, unabhängig von einer berechtigten faktischen Begründung, richtet sich auf das Gegenüber. “Zorn” = Emotionale Empörung über Unrecht o.ä., von daher dann übertragen auf den Täter.

  6. Danke, damit kann ich im Gespräch mit anderen gut was anfangen.
    Ja, es stimmt: Gottes Heiligkeit und unsere Unheiligkeit gehen überhaupt nicht zusammen und von daher ist es, aus der Sicht des AT, wo Gott in einem Land Wohnung nahm, zu verstehen, dass es für Gott nicht denkbar war, in einem unheiligen Raum zu leben. Und natürlich, das NT läßt uns nicht im Unklaren über ein Gericht!
    Nun noch eine Frage zum Buch der Richter: Mir ist bezüglich der Abstammungslinien der großen Richter aufgefallen, dass Gideon ein Abiesriter und Jiftach ein Gileaditer waren. Wo kommen diese Volksgruppen her?

    1. Beides sind Clanbezeichnungen:
      Gideon (Ri 6,11): Nachkomme Abiesers (eines Sohns Manasses): Jos 17,2 – also “Gideon aus dem Clan (= Sippe) Abiesers” (vgl. auch Ri 6,24.34; 8,32).
      Jiftach (Ri 11,1): Nachkomme Gileads, der wiederum Nachkomme Machirs ist, ebenfalls eines Sohns Manasses Jos 17,1. (Zu unterscheiden von der Landschaftsbezeichnung „Gilead“ als Teil des Ostjordanlandes (wie sonst meist im AT); in Ri 11,5 bleibt unklar, ob es die Ältesten der Region oder des Clans sind, die Jiftach zum Kommandeur machen wollen; vermutlich ist ersteres gemeint wie in Ri 11,29).

  7. Ich habe eine Frage betreffend Dtn 20,16-18 und den dazugehörenden Exkurs 1: Die Landnahme – Genozid oder Gericht? der AB3.
    Im Gespräch mit Menschen, die dem Glauben kritisch gegenüber stehen und meine pazifistische Haltung kennen, werde ich immer wieder mit dem Massenmord befehlenden Gott konfrontiert.Und auch mir macht das Buch Josua große Mühe.
    Auch ohne Verbalinspiration schaut es doch so aus, durch die Vielzahl der Stellen, dass Gott diese totale Vernichtung (alles Lebenden: Kinder, Schwangere, Alte, Tiere)angeordnet hat. Die Gesichtspunkte (AB3,5)zeigen einen Gott, der gnadenlos richtet. Wie passt das alles zu dem Gebot der Fremdenliebe, welches wir im Pentateuch finden? Und nun meine eigentliche Frage: Könnte es vielleicht sein, dass diese Texte auch unter dem Gesichtspunkt eines sich wandelnden, dynamischen Gottes zu betrachten sind, ein Gott, der sich von einem zornigen, wütenden Gott zu einem Gott wandelte, der sein Leben gibt, weil die Menschheit nur noch auf diese Weise zu retten ist?

    1. Zweifellos machen diese Stellen aus der Sicht des NT, besonders von Jesu absolutem Gebot der Feindesliebe her, enorme Schwierigkeiten. Sie lassen sich für unser modernes Empfinden, das schon die Todesstrafe als barbarisch erlebt, nicht mehr zufriedenstellend beantworten.
      Der Gedanke, dass Gottes Haltung sich gewandelt haben könnte, ist bedenkenswert. In der Sintflut/Noah-Erzählung finden wir Ähnliches, im Negativen wie im Positiven: „Da reute es Jhwh, auf der Erde den Menschen gemacht zu haben, und es tat seinem Herzen weh. Jhwh sagte: „Ich will den Menschen, den ich erschaffen habe, vom Erdboden vertilgen, … denn es reut mich, sie gemacht zu haben.“ (Gen 6,6f). Nach der Flut aber hat Gott ein Einsehen und schließt einen „ewigen“ Bund, genau das nicht mehr zu tun (Gen 9,9ff).
      Allerdings eröffnet dieser Gedanke dann auch eine neue Schwierigkeit: Wenn Gott sich zwischen AT und NT so geändert haben sollte – wer kann dann garantieren, dass er seine Haltung in Zukunft nicht irgendwann wieder ändert? Also seine Gnade widerruft, wenn wir fortwährend weiter sündigen …?
      Aber zurück zum Text: Unabhängig von diesen Überlegungen, die ja auf der „Meta-Ebene“ stattfinden, also nicht durch direkte Textaussagen belegt sind, scheint es mir doch, dass das als Erklärung für den Bann (chäräm), den Befehl zur Ausrottung alles „Anti-Heiligen“, nicht trägt. Dieser Bann wird ja genauso auf Israel bezogen, nicht nur auf die vorisraelitischen Einwohner Kanaans (und auch nicht auf die späteren!).
      Auch das NT weiß um den Ernst des Gerichts Gottes. Jesus hat das selbst immer wieder formuliert. Und der Abschluss des Buchs der Offenbarung mit der wunderbaren Vision der Neuen Schöpfung und des Neuen Jerusalems, enthält genau dieselbe Aussage: „… Selig, wer sein Gewand wäscht: Er hat Anteil am Baum des Lebens, und er wird durch die Tore in die Stadt eintreten können. Draußen bleiben die «Hunde» und die Zauberer, die Unzüchtigen und die Mörder, die Götzendiener und jeder, der die Lüge liebt und tut“ (Off 22,14f). Diese Worte kommen in der Off aus dem Mund Gottes selbst, der in diesem Buch überhaupt nur zweimal spricht, ganz am Anfang – und eben hier, ganz am Ende. Sie tragen also ein enormes Gewicht.
      Letztlich macht diese Sicht den Ernst des gesamten alttestamentlichen Sühnekults aus, bei dem ja Lebewesen sterben müssen. Und damit ist diese Sicht auch der tiefste Grund, wieso Gott selbst in Jesus Christus stirbt – also aus dem Land ausgerottet wird! Wenn wir hier nicht den „Ernst der Sünde“ erkennen, wo dann?
      Also bleibt meiner Ansicht nach nur die Überlegung übrig, dass der Zorn Gottes (nicht die „Wut“ – denn Wut ist irrational und un-„angemessen“!) so ernst ist, weil das Vergehen des – von Gott bis in den eigenen Tod hinein geliebten! – Menschen so verheerend ist, dass Gott nicht anders kann. Seine Heiligkeit und unsere frei gewählte Unheiligkeit gehen einfach nicht zusammen – wie zwei entgegengesetzt geladene Magneten. Hier stehen wir dann wieder auf dem Boden des Dtn: Bei der Landnahme geht es nicht in erster Linie darum, einen Lebensraum für Israel zu schaffen, sondern einen Heiligen Raum“ zu eröffnen, in dem Gott Wohnung nehmen kann, wie er es im Zelt und im späteren Tempel dann auch tut (so wie schon in der ursprünglichen Schöpfung mit dem Gottesgarten als Zentrum). Deshalb fällt auch und gerade das Volk Gottes unter dieses Strafgericht des chäräm, wenn es sich – und damit das Land – entweiht. Das ist der tiefste Sinn des Exils, wie schon das Dtn herausstellt.
      Auf dieser Linie liegt dann auch die rätselhafte Aussage im Buch der Offenbarung, dass Gott auf dieser alten Erde nochmal ein 1000-jähriges Reich mit seinen „Heiligen“ zusammen errichtet, aus dem alles Gottwidrige (Unheilige) verbannt ist (Off 20,1-6). Erst danach kommt es zu einer allerletzten Auseinandersetzung mit dem Gottwidrigen und schließlich zur Neuen Schöpfung (Off 20,7ff; 21–22). Diese Aussage und ihr Kontext machen theologisch enorme Schwierigkeiten; sie dürfte aber ihre tiefste Wurzel in diesem schon in der Schöpfung grundgelegten Konzept des „heiligen Raums“ haben.

  8. Ich bin beim Arbeitsblatt 2 noch über einen kleinen Text gestolpert, den ich nicht einzusortieren weiß.
    Es ist Ex 4,24-26: Gott kommt Mose entgegen und wollte ihn töten. Und die Sache mit der Vorhaut des Sohnes. Gibt es dafür eine für uns verständliche Deutung?

    1. Der Versuch der Tötung des Mose Ex 4,24-26 ist und bleibt ein in jeder Hinsicht schwieriger Text. Drei Linien lassen sich ausziehen:
      1) Es gibt die ähnlichen Begegnungen Jakobs (Gen 32,23ff) und Bileams (Num 22,22ff), bei denen der Protagonist (Handelnde) ebenfalls göttlichen Widerstand erlebt: Etwas ist im Verhältnis des Protagonisten zu Gott noch ungeklärt; das führt zu einer lebensgefährlichen Situation, die aber bewältigt wird.
      2) Sicherlich besteht auch ein Zusammenhang zu den unmittelbar vorher erwähnten „Erstgeborenen“ und ihrer Gefährdung; 4,22f: Israel als Gottes erstgeborener Sohn, gefährdet durch Pharao; der Erstgeborene Pharaos, gefährdet durch Gottes Gericht. Jetzt ist Moses’ Erstgeborener im Blick.
      3) Und das Blutritual erinnert an den Schutz der Erstgeborenen Israels durch das Blut der Lämmer beim ersten Passa (Ex 12,12f); nur „Beschnittene“ haben an diesem Passa Anteil (Ex 12,48).
      Trotzdem bleibt die Geschichte so, wie sie erzählt wird, letztlich unklar. Sie steht damit in einer Reihe mit anderen, deren Sinn für uns nicht mehr einsichtig ist (vgl. etwa schon Gen 6,1-4). Natürlich hat man im Verlauf der Jahrhunderte sowohl im Judentum wie im Christentum immer wieder überlegt und spekuliert, was dieser Text bedeuten könnte. Da kommt man dann auf mehr oder weniger interessante Gedanken, die den einen oder andern ansprechen mögen. Aber Fakt ist: Wir wissen es letztlich einfach nicht. Für die ursprünglichen Erzähler war das sicherlich noch anders. Für das Verständnis derjenigen, die solche Passagen in die biblischen Bücher aufnahmen, lassen sich über den Kontext immerhin Vermutungen anstellen (etwa die obigen 3 Linien). Insgesamt aber müssen wir uns damit zufrieden geben, dass die Bibel eben nicht nur ein Buch für UNS ist, sondern für Menschen aller Zeiten und Kulturen, auch von vergangenen. Hermeneutisch sind wir hier wieder bei der Unterscheidung zwischen dem Fokus und den Rändern; zu letzteren gehört dieser Text.

  9. Ich habe auch lange über diese Frage nachgedacht,wie ich es denn sehe: Bestimmt unsere Antwort auf Gott unser Wesen oder ist es umgekehrt?
    Das Tolle ist ja, wie Manfred es ja auch schreibt, dass unser Wesen sich wandeln kann. An irgendeinem Punkt stehen wir vor der Wahl, auf Gottes Anreden zu antworten. Und da spielt unser Wesen natürlich eine Rolle. Wir haben jedoch ganz klar eine Wahlmöglichkeit. Und manchmal sind die Folgen ziemlich gravierend. Das Wesen kann sich verändern -zum Positiven, wie auch zum Negativen. Das kann man selbst erleben, bei anderen oder eben auch in der Bibel finden (dem Pharao verstockte das Herz, oder die Bekehrung der Lydia…)
    Schön, dass diese Frage noch mal aufgegriffen wurde. Mir wäre es wohl weggerutscht.
    Noch eine Frage an Dich, Manfred: Das Erstgeburtsrecht und der Erstgeburtssegen sind offensichtlich zwei unterschiedliche Dinge. Das eine wohl eher rechtlich, das andere geistlich. Gibt es da noch weitere Informationen drüber?
    Und wie kommt es, dass beides klar voneinander getrennt wurde? Ich hätte gedacht, dass in der damaligen Gesellschaft beides eng miteinander verwoben gewesen wäre.

    1. Zum Thema „Erstgeburtsrecht“ (eigentlich heißt der hebr. Begriff nur „Erstgeburtschaft“) so viel: In der Tora erhält der Erstgeborene materiell doppelt so viel wie jeder der anderen Söhne, bei 2 Söhnen also zwei Drittel, bei zwölf Söhnen zwei Dreizehntel … Allerdings ist nicht klar, wie die Regelungen zur Zeit der Patriarchen aussahen. Bei Jakob/ Esau hat Jakob seinem Bruder wahrscheinlich nur den (materiellen) Zusatzteil des Erbes abgekauft, worin der auch immer bestand. Der „Segen“ des Erstgeborenen ist noch etwas anderes: er hat damit zu tun, dass durch den Erstgeborenen die „Hauptlinie“ der Familie weitergeführt wird. Doch hat Gott diese Sitte bewusst so häufig durchbrochen, dass es geradezu ein Muster zu sein scheint: Kain/Abel,Ismael/Isaak, Ruben/Josef – bzw. Juda (vgl. z. B. 1Chr 5,1-2), Efraim/Manasse, Aaron/Mose, und natürlich David, der als jüngster Sohn Isais gesalbt wird, sowie Salomo statt der vielen älteren Söhne. Gott benutzt also kulturelle Vorgaben, lässt sich aber durch sie nicht festlegen, sondern zeigt im Gegenteil oft dadurch seine Souveränität, dass er sie unterläuft. Jakobs Fall ist insofern speziell, als er sich selbst durch Betrug den Status der Erstgeburtschaft (materiell und ideell) verschafft; Gott lässt sich davon aber nicht abschrecken.

  10. ich hab 2 fragen, die sich mir beim bearbeiten des ab1 gestellt haben, bis jetzt 🙂
    1. was hat es mit dem Wesen des menschen zu tun? v.a. den Satz “die Antwort des menschen auf Gott bestimmt sein Wesen” hat mich stocken lassen. und das im Zusammenhang mit den Stammbäumen in der Bibel. das ist doch mit der entwicklungsgeschichtlichen sicht/ dynamisch gemeint, oder? fährt Gott mit bestimmten Charakteren fort?
    ganz naiv gefragt: hat uns Gott nicht mit einem bestimmten Charakter erschaffen? haben wir Einfluss auf diesen Charakter? auf unser wesen? bestimmt nicht unser Charakter unsere Antwort zu Gott? da beist sich ja die Katze in den schwanz!! was denn nun?
    2. ich musste bei den Worten Organismus/ Organisation mehrmals lesen und habe mich gefragt: will Gott lieber kleine Strukturen, bzw. lebt es sich für den mensch in kleinen Strukturen besser? weil die Hierarchien hier flacher gelebt werden können? und es nicht so sehr auf den Charakter des Königs ankommt? gibt es Beispiele für gelingende große Institutionen? Die meisten Könige ja nicht, oder?

    1. Zu 1: Ich versteh nicht so genau, was Deine Frage ist. Die Aussage über Entwicklung(-sgeschichte) meint, dass die Welt nicht „statisch“ geschaffen ist, so dass z. B. aller Tierarten direkt von Gott gemacht wären, sondern dass er hier bewusst das Prinzip der natürlichen und (beim Menschen) geschichtlichen Entwicklung einführt.Das bezieht sich hier zunächst auf die „Makro-Ebenen“ von Schöpfung und Menschheit.
      Auf der „Mikro-Ebene“, beim einzelnen Menschen, gilt dann Ähnliches. Gott erschafft uns nicht „fix“, sondern mit Entwicklungspotential und Entscheidungsfähigkeit. Nur dadurch sind Liebe und Hass, Gehorsam und Ungehorsam usw. möglich.
      Das Stichwort „Charakter“ meint eben nicht unveränderliche Wesensmerkmale (wie die Augenfarbe), sondern unser inneres Wesen, so wie es durch unsere Verhaltensweisen und Entscheidungen im Lauf der Jahre „geprägt“ wird („charaktér“ ist griech. und heißt „Prägung“). Natürlich spielen da auch unsere Veranlagung hinein und andere Faktoren, über die wir keine Kontrolle haben. Aber letztlich sind es unsere Reaktionen darauf, die uns zu dem werden lassen, was wir sind. Für Christen kommt ein entscheidender neuer Faktor hinzu: das Wirken des Heiligen Geists in uns, der uns „umprägt“ in das Ebenbild Jesu hinein. …
      Zu 2) Zwei Sachen scheinen mir klar: Erstens: Biblisch ist der „Organismus“ der grundlegendere Ansatz. Nur er wird dem personalen Wesen des Menschen gerecht, der auf Gemeinschaft hin geschaffen ist. Und zweitens: Der Mensch kommt in größeren Gruppen nicht ohne „Organisation“ aus (vgl. dazu die grundlegende Sicht von Ex 18). Die Aufgabe, an der wir aber immer wieder scheitern, ist es, beide Aspekte nicht in einen Gegensatz treten zu lassen („Organsisation dominiert über den Organismus – bis sie ihn abgewürgt hat …“ – oder: „der Organismus wuchert vor sich hin, bis er an sich selbst zugrunde geht …“), sondern ein Miteinander zu entwicklen. Wo das nicht möglich ist, brauchen wir unbedingt zusätzlich (externe) Organismus-Strukturen als Ausgleich, sonst werden wir zu „Rädchen im Getriebe“ entwürdigt. – Die Balance ist allerdings schwierig; meist tendieren wir als Angehörige der westlichen Welt (aber auch in Teilen Asiens) aus Effizienzgründen zur alles beherrschenden Organisation. Afrikaner hingegen ticken anders: sie kommen meist viel stärker von der „community“ her. „Gelingende“ Institutionen (im Sinn einer Bewahrung und Förderung des Organismuscharakters) sind deshalb sehr selten. Auch die frömmste Gemeinde kippt meist ab einer bestimmten Größe; man versucht dann zwar, den Beziehungscharakter zu halten, erstickt ihn aber oft durch „herrscherliche“ Autoritäts- und Hierarchieebenen, die der Unreife auf allen Ebenen Vorschub leisten; die Kirchengeschichte liefert endlos Beispiele dafür … So fordert übrigens Jesus, dass der „Leiter“ der Diener aller sein soll und kein Herrscher!

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